Der christliche Glaube kann Menschen und Kirchengemeinden dazu bewegen, in bestimmten Fällen staatliches Handeln zu hinterfragen und aufgrund einer Gewissensentscheidung Kirchenasyl zu gewähren. Mit einem Kirchenasyl treten Kirchengemeinden für Menschen ein, denen durch eine Abschiebung Gefahren für Leib, Leben, Freiheit oder humanitäre Härten drohen. Damit setzen sie sich zugleich für das grundgesetzlich verankerte Recht auf Schutz ihrer Menschenwürde, ihrer Freiheit und ihrer körperlichen Unversehrtheit ein.
Kirchenasyl ist ein letzter legitimer Versuch (Ultima Ratio) einer Kirchengemeinde, durch zeitlich befristeten Schutz eine unmittelbar drohende Abschiebung abzuwenden und dadurch eine erneute, sorgfältige Überprüfung ihres Schutzbegehrens zu ermöglichen.
Das Kirchenasyl ist immer wieder Gegenstand politischer Diskussion geworden. Dabei stößt die Gewährung von Kirchenasyl teilweise auf Kritik. Zum Teil werden den Kirchen beim Umgang mit dem Kirchenasyl erhebliche Mängel vorgeworfen oder gar eine „Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit“, da es nicht Aufgabe der Kirche sein könne, rechtskräftige Entscheidungen der Behörden zu unterlaufen. Zum anderen wird auf die steigende Zahl der Fälle von Kirchenasyl hingewiesen.
Diese Beobachtung in der öffentlichen Wahrnehmung des Kirchenasyls ist für uns Anlass, Sie zu bitten, auch weiterhin auf einen sorgsamen Umgang mit dem Kirchenasyl zu achten. Es ist kein staatlich anerkanntes Rechtsinstitut, kann aber in besonderen Fällen eine Möglichkeit sein, einen Aufschub für weitere Klärungen in dem jeweiligen Einzelfall zu erreichen.
Historie des Kirchenasyls
In religiösen Gemeinschaften waren Tempel und Gotteshäuser schon immer Orte des Friedens und der Zuflucht. Hieraus entwickelte sich zunehmend die Idee des Schutzraums.
Das Instrument des Kirchenasyls in der hier dargestellten Form gibt es in Deutschland seit etwa 40 Jahren. Der Suizid eines abschiebeverpflichteten Asylberwerber im Jahr 1983 im Berliner Verwaltungsgerichts führte zu einer breiten öffentlichen Diskussion über die Asylpraxis. Aus dieser Betroffenheit heraus begannen Kirchengemeinden Flüchtlinge aufzunehmen, die abgeschoben werden sollten. Ihnen sollte damit vorübergehen eine Zuflucht gegeben werden.
Seit dieser Zeit ist das Kirchenasyl innerhalb aller Kirchen in Deutschland immer wieder angewendet worden. Seit 1997 ist die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche ein eingetragener Verein.
rechtlicher Hintergrund
Das Kirchenasyl ist kein Rechtsanspruch, auf den sich Kirchengemeinden berufen könnten, insbesondere wird damit kein Anspruch auf Erteilung einer Duldung begründet. Der Staat ist durch das Kirchenasyl weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, eine Überstellung oder Abschiebung durchzuführen, wenn der Aufenthalt des ausreisepflichtigen Geflüchteten bekannt ist. Die Gewährung von Kirchenasyl entfaltet für sich genommen keine aufenthaltsrechtliche Wirkung und hindert rechtlich insbesondere nicht die Durchführung einer Abschiebung.
Kirchengemeinden gewähren mit dem Kirchenasyl Menschen Schutz in einem rechtlichen „Graubereich“, weil aus ihrer Sicht vom Staat im Einzelfall wichtige Rechtsnormen übersehen oder sogar missachten kann. Das Gewissen kann also in Widerspruch zu staatlichen Regelungen und Maßnahmen geraten und daher zu Verstößen gegen gesetzliche Bestimmungen führen. Deshalb müssen die für die Kirchengemeinde handelnden Personen bereit sein, die volle, gegebenenfalls auch strafrechtliche Verantwortung dafür zu tragen.
Kirchenasyl wird vom Staat lediglich als Ausdruck christlich-humanitärer Tradition respektiert. Die Gewährung von Kirchenasyl entfaltet für sich genommen keine aufenthaltsrechtliche Wirkung. Der Staat begibt sich freiwillig seiner rechtlichen Handlungsinstrumente und verzichtet bewusst darauf, das Recht durchzusetzen, solange ein Ausreisepflichtiger sich in kirchlichen Räumlichkeiten im Kirchenasyl aufhält.
Die Gewährung von Kirchenasyl kann ein Ausdruck von Glaubensüberzeugung sein. Gleichwohl ist aber fraglich, ob ein solches Handeln aus ernster Gewissensnot strafrechtlich als Entschuldigung angesehen werden kann. In der Regel werden Gerichte nicht akzeptieren, dass aus der Gewissensfreiheit das Recht hergeleitet wird, staatliche Entscheidungen zu korrigieren. [1]
Entsprechend gab es vereinzelt Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum illegalen Aufenthalt gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes. Die meisten Ermittlungsverfahren sind allerdings bislang eingestellt worden. Vereinzelt wurden aber auch Geldstrafen verhängt.
Kirchenasyls und Dublin Verordnung
Immer häufiger kommt es vor, dass auch Menschen um Kirchenasyl bitten, die nicht in ihr Herkunftsland, sondern in einen anderen europäischen Staat abgeschoben werden sollen. Hintergrund ist die sog. Dublin-Verordnung der EU. Danach gilt, dass der europäische Mitgliedstaat ein Asylverfahren zuständig ist, den ein Flüchtling als ersten betreten hat.
Gerade bzgl. den südöstlichen Ländern der EU gibt es immer wieder Kritik an den Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen. In der Regel muss sich ein Asylsuchender sechs Monate in Deutschland aufhalten, dann ist die Bundesrepublik nach der „Dublin-Verordnung“ für das Asylverfahren zuständig.
In jüngster Zeit wurde daher die Gültigkeit der Halbjahresfrist vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vermehrt in Zweifel gezogen und stattdessen wegen vermeintlichen „Untertauchens“ eine Überstellungsfrist von eineinhalb Jahren geltend gemacht.
Die Innenminister der Länder haben anlässlich ihrer Konferenz im Juni 2018 festgestellt, dass sie die Tradition des Kirchenasyls respektieren, jedoch zu dessen Erhaltung Änderungen im Verfahren für notwendig halten. Die in diesem Zusammenhang getroffenen Beschlüsse der Landesinnenministerkonferenz machen es erforderlich, auf folgende Gesichtspunkte im Zusammenhang des zwischen Kirchen und Staat vereinbarten „Sonderprüfungsverfahrens“ hinzuweisen:
Zwischen der EKD und dem Katholischen Büro in Berlin sowie dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) besteht die „Vereinbarung über eine Sonderprüfung in besonderen Einzelfällen“. Diese Sonderprüfung soll helfen, Kirchenasyle zu vermeiden. Sie bietet den Kirchengemeinden die Möglichkeit, besondere persönliche Härten in einzelnen Fällen vorzubringen und im Rahmen des sogenannten Dossierverfahrens nochmals überprüfen zu lassen.
Für die Einreichung der Dossiers haben alle Kirchen gegenüber dem BAMF Ansprechpersonen benannt. Die Einzelheiten dieses Verfahren hat das BAMF in Form eines Merkblattes veröffentlicht.
Für die evangelischen Kirchen in Niedersachsen üben
- Frau Oberkirchenrätin Heidrun Böttger (heidrun.boettger@evlka.de) und
- Frau Insa Agena, jur. Referentin (insa.agena@reformiert.de)
diese Funktion aus.
Soweit sich ein mögliches Kirchenasyl in Ihrer Gemeinde anbahnt, muss also umgehend Kontakt zu einer der beiden Ansprechpartnerinnen aufgenommen werden. Damit wollen wir vermeiden, dass Kirchenasyle gegenüber den Behörden angezeigt werden, ohne dass zeitnah ein Dossier eingereicht wird.
Auf Grund der Beschlussfassung der Innenministerkonferenz ist nämlich künftig davon auszugehen, dass das Bundesamt sich anstelle der grundsätzlich geltenden sechs Monate auf eine 18-monatige „Überstellungsfrist“ berufen wird, wenn
- bei der Anzeige des Kirchenasyls nicht deutlich wird, dass die zuständige Ansprechperson der Kirchen einbezogen ist,
- innerhalb eines Monats nach der Kirchenasylmeldung kein Dossier zur Begründung eingeht oder
- der Antragsteller das Kirchenasyl trotz abschlägiger Entscheidung des BAMF über sein Dossier nicht verlässt.
Der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat diese mögliche Erhöhung der „Überstellungsfrist“ von sechs auf 18 Monate zu Recht kritisiert. Die Dauer von eineinhalb Jahren wäre eine sehr hohe Belastung für Schutzsuchende und Kirchengemeinden. Während eines Kirchenasyls gibt es keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Die Betroffenen wären für anderthalb Jahre in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und auf Unterstützung angewiesen. Die Kirchengemeinden wiederum müssten Begleitung und Versorgung der Schutzsuchenden über einen viel längeren Zeitraum hinweg gewährleisten und Räume zur Verfügung stellen, die sie dann anderweitig nicht nutzen können.
Diese Verschärfung macht neben der frühzeitigen Einbeziehung der offiziellen Ansprechpartnerinnen jedenfalls auch weiterhin eine intensive Beratung der Einzelfälle in den Kirchenräten erforderlich. Das gilt insbesondere auch in Fällen, in denen Kirchenasyle „von außen“ - von Flüchtlingsinitiativen oder Rechtsanwälten - an Kirchengemeinden herangetragen werden, ohne dass diese die Umstände des konkreten Falles des Flüchtlings kennen. Hier ist es wichtig, zeitnah ausreichende Informationen über den Einzelfall des Flüchtlings und mögliche besondere Härten zu erhalten. Problematisch sind auch Fälle von “länderübergreifenden Kirchenasylen“. Solche Fälle, die aus anderen Bundesländern an Kirchengemeinden der evangelischen Kirchen in Niedersachsen herangetragen werden, können nicht von den Ansprechpartnerinnen für die niedersächsischen Kirchen bearbeitet werden.
Mit der Aufnahme in das Kirchenasyl und der Einreichung eines Dossiers erfolgt beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) begründet der Eintritt iin ein weiteres Prüfverfahren entsprechend der Vereinbarung zwischen dem BAMF und den Bevollmächtigten der evangelischen und katholischen Kirche zur Kirchenasylgewährung in den Dublin-Fällen. Damit entsteht ein Anspruch der aufgenommenen Asylsuchenden auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG wegen Vorliegens eines rechtlichen Abschiebehindernisses. Werden die Vorgaben der Vereinbarung eingehalten, so scheidet jedenfalls bis zur Mitteilung des BAMF über den negativen Ausgang der erneuten Einzelfallprüfung sowie dem fruchtlosen Ablauf der dem Asylsuchenden gesetzten Dreitagesfrist zum Verlassen des „Kirchenasyls“ eine Strafbarkeit des Kirchenasyls aus.[1]
Wird das „Kirchenasyl“ nach der Negativmitteilung des BAMF fortgeführt kann eine Beihilfe zu einem Asylstrafbestand durch Unterlassen bestehen. Dies ist nach Ansicht des Bayr. OLG in einer Entscheidung von 2021 aber nicht strafbar.[1]
Die Fortführung des Kirchenasyls kann aber dazu führen, dass die zuständigen Stellen eine Abschiebung aus dem Kirchenasyl vorantreiben.
Abschiebung aus dem Kirchenasyl
In Niedersachsen sind im Mai 2024 Abschiebungen aus dem Kirchenasyl vorgenommen worden. In beiden Fällen hat es sich um Kirchenasyle im sog. Dublin-Fällen gehandelt, bei denen die Nachprüfung durch das BAMF im Rahmen der Vereinbarung zwischen Kirchen und BAMF aus dem Jahr 2015 dazu gerührt hat, dass die Ausreisepflicht in des Ersteinreiseland bestehen geblieben ist. Auch in anderen Bundesländern sind vereinzelt Abschiebungen aus Kirchenasylen vorgenommen worden. Die Evangelischen Kirchen in Niedersachsen haben in Gesprächen mit der Niedersächsischen Innenministerin, der Landesaufnahmebehörde und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 28. Mai 2024 vereinbart, dass es keine weitere Abschiebungen aus dem Kirchenasyl geben soll
Position der Evangelisch-reformierten Kirche zum Kirchenasyl
Aus Sicht der Evangelisch-reformierten Kirche kann das ausreizen der sog. Dublin-Frist allein kein Grund sein, um ein Kirchenasyl zu begründen. Insoweit gilt es zu vermeiden, dass der Eindruck entsteht, ein Kirchenasyl wird gewährt, um das Verstreichen der Rücküberstellungsfrist und damit das „Selbsteintrittsrecht“ der Bundesrepublik zu erzwingen. Vielmehr geht es darum, aufgrund einer besonderen persönlichen Härte im Einzelfall zu begründen, weshalb eine Abschiebung des Asylbewerbers oder der Asylbewerberin aus christlicher Überzeugung nicht zumutbar ist.
Kirchenasyl ist ein Instrument der christlichen Nächstenliebe um Gefahr für Leib und Leben abzuwehren, es ist kein Mittel des politischen Protests. Im April 2017 hat sich die Gesamtsynode im Rahmen der Fragestunde und im Rahmen einer Entschließung mit dem Thema " Kirchenasyl beschäftigt. Bei der Beantwortung der Frage hat das Moderamen der Gesamtsynode ausführlich seine Blickweise auf das Kirchenasyl dargelegt.
Auf der Grundlage der dargelegten Überlegungen hat die Gesamtsynode im April 2017 folgenden Beschluss gefasst:
„Die Gesamtsynode der Evangelisch-reformierten Kirche beschließt:
- Die Gesamtsynode ist dankbar für das Engagement, mit dem sich Menschen an vielen Orten, in Kommunen, Kirchengemeinden und Diakonie für Flüchtlinge einsetzen. Sie bestärkt alle Christinnen und Christen, Flüchtlingen geschwisterlich zu begegnen. Diese Hilfe erfolgt in vielfältiger Form.
- Die Gesamtsynode dankt den Kirchengemeinden, die mit der Gewährung eines Kirchenasyls in Ausnahmesituationen und besonderen Härtefällen eine besondere Verantwortung für Flüchtlinge übernehmen.
- Die Gesamtsynode erklärt zugleich ihre Wertschätzung für all diejenigen, die bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Behörden in verantwortlicher Weise Recht und Gesetz anwenden.
- Ein verantwortlich durchgeführtes Kirchenasyl erwächst aus der Pflicht zur christlichen Nächstenliebe im konkreten Notfall. Es dient weder einer politischen Positionierung noch als Mittel zur Änderung der Rechtsordnung. Kirchenasyle zielen auf eine Überprüfung und Revision von Abschiebe- oder Rückführungsentscheidungen in besonderen Härtefällen. Die Gesamtsynode verwahrt sich gegen jeden Versuch, die Aufnahme von Flüchtlingen ins Kirchenasyl und den christlichen Beistand für Flüchtlinge in den Wahlkampf hineinzuziehen.
- Die Gesamtsynode der Evangelisch-reformierten Kirche bittet das Moderamen der Gesamtsynode,
- sich dafür einzusetzen, dass zwischen den Kirchen und den zuständigen staatlichen Stellen Vereinbarungen darüber bestehen bleiben und weiterentwickelt werden, dass die Aufnahme in ein Kirchenasyl zu einer nochmaligen Überprüfung der Ausreiseverpflichtung führt, ohne dass dies negative rechtliche Folgen hat;
- durch das Kirchenamt juristische und fachliche Beratung sowie seelsorgliche Begleitung von Kirchengemeinden sicherzustellen, die ein Kirchenasyl anstreben oder durchführen. Dies gilt insbesondere, wenn gegen die verantwortlich handelnden Haupt- und Ehrenamtlichen aufgrund eines Kirchenasyls strafrechtliche Ermittlungen durchgeführt werden sollten.“