Die Einschätzung, dass kirchliche Positionen ohne eine ausführliche Folgeabwägung rein aus einem „Gutmenschentum“ heraus entwickelt würden, ist nicht der Fall. Kirchlichem Handelnden per se Kompetenz und Weitblick in wirtschaftspolitischen oder organisatorischen Fragen abzusprechen, ist problematisch. Richtig ist, dass Kirchen Ihre Positionen (anders als Wirtschaftsunternehmen) vor allem in gleichberechtigten Gremien entwickeln und dadurch eine Abwägung deutlich unterschiedlicher Blickwinkel erfolgt.
Wirtschaftspolitische Fragen
Die kirchliche Position bestreitet nicht, dass die Aufnahme von Flüchtlingen zunächst Geld kostet und damit auch öffentliche Haushalte herausfordert. Gerade die Kommunen leiden unter einer hohen Verschuldung, die eine Vielzahl von Gründen hat. Genau deshalb gibt es immer wieder Diskussionen zwischen Bund, Ländern und Kommunen über die Frage der Kosten. Den Kostenfaktor aber allein für den Moment der Aufnahme von Flüchtenden zu betrachten ist mindestens genauso eine Verkürzung komplexer Sachverhalte, wie die Tatsache, diese Problematik in einem kurzen Videostatement gar nicht erst zu benennen. Kosten ausschließlich als Aufwand ohne Betrachtung ihrer Wirkung wahrzunehmen, ist eine kameralistische Sichtweise, die glücklicherweise inzwischen auch im öffentlich-rechtlichen Bereich zunehmend durch eine kaufmännische Betrachtungsweise abgelöst wird.
Aus der Historie wissen wir, dass Flüchtlingsmigration in den Zielländern häufig zu einem wirtschaftlichen Aufschwung geführt hat. Dies war beispielsweise im 16. Jahrhundert in Emden mit der Ankunft der niederländischen Glaubensflüchtlinge der Fall, im 17. und 18. Jahrhundert durch die Aufnahme hugenottischer Flüchtlinge in Nord-Hessen und in Preußen, dann auch nach dem 2. Weltkrieg durch die Flüchtlingen aus dem ehemaligen Osten des Deutschen Reiches und in gewissem Umfang auch beim Zuzug vietnamesischer Bootsflüchtlinge insbesondere nach Niedersachsen Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Zumindest in den beiden erstbenannten Fällen und im letztbenannten Fall kamen Flüchtlinge mit einem deutlich anderen kulturellen und religiösen Hintergrund, die sich auf Dauer nicht nur wirtschaftlich „rechneten“, sondern auch zur gesteigerten kulturellen Vielfalt und wirtschaftlichen Weiterentwicklung der Aufnahmegebiete beitrugen. Auch die Evangelisch-reformierte Kirche hat heute noch eine Vielzahl von Gemeinden, die aus Migrationsbewegungen heraus entstanden sind. Nach einer schwierigen Anfangsphase haben diese Gemeinden und ihre Glieder in ihren Orten in erheblicher Weise auch zum Wirtschaftswachstum beigetragen.
Für die heutige Situation zeigen Studien, dass eine zielgerichtete Investition in Integration und Ausbildung von Geflüchteten im Idealfall bereits ab 2025 dazu führen kann, dass die Steuern und Abgaben von aufgenommenen Flüchtlingen die Kosten für nicht-erwerbstätige Flüchtlinge übersteigen.[1]
Humanitäre Aspekte
Darüber hinaus sieht die Evangelisch-reformierte Kirche jedoch die humanitäre Verantwortung weiterhin als primäres Argument für den Einsatz und die Aufnahme von Flüchtlingen. Anders gesagt: Für die Evangelisch-reformierte Kirche überwiegt der humanitäre Aspekt den Aspekt der Kosten. Aber selbst wenn die humanitäre Frage nicht für jeden Diskussionsteilnehmer handlungsleitend ist, muss festgestellt werden, dass die demographische Entwicklung in Deutschland in naher Zukunft bereits zu einem immer stärker werdenden Fachkräftemangel führen wird. Auch Zuwanderung wird daher zur Aufrechterhaltung unseres Lebensstandards notwendig sein. Hierbei können auch Flüchtlinge eine wichtige Rolle spielen. Dies wird mir von den Interessensverbände des Handwerks und des Mittelstandes immer wieder vorgetragen.
Unstrittig ist, dass es weltweiter Lösungen für die Migrationsproblematik bedarf. Die Unterstützung von Flüchtlingen, die nach Europa kommen, ist nur ein Aspekt in diesem Gesamtzusammenhang. Das wir auch dies im Blick haben, wird für die Evangelisch-reformierte Kirche schon daran deutlich, dass sie eine ungleich höhere Summe in die kirchliche Entwicklungsarbeit und in die Arbeit ihrer weltweiten Partnerkirchen vor Ort investieren als in die Förderung von Flüchtlingsprojekten in Deutschland oder an den europäischen Außengrenzen. In dem ökumenischen Netzwerk der Kirchen werden Menschen, die daran denken, nach Europa zu kommen, schon in ihren Ursprungsländern angesprochen. Durch Bildungsarbeit, wirtschaftliche Hilfen und andere Unterstützungen werden erhebliche Leistungen erbracht, um die Lebenssituation in den Herkunftsländern zu verbessern. Zudem ist das Thema Migration einer der Schwerpunkte der Diakonie in den afrikanischen Kirchen. Dazu gehören natürlich auch Warnungen vor den falschen Versprechungen der skrupellosen Schlepper und der Versuch, Perspektiven im eigenen Land zu eröffnen. Ziel dieser Bemühungen ist es, Menschen zum Verbleib in ihrem Heimatland zu bewegen. Um hier grundlegend abzuhelfen, bedarf es deutlich stärkerer politischer und wirtschaftlicher Initiativen Europas in den Ländern Afrikas. Aber daneben ist es nun einmal eine Tatsache, dass tausende Menschen sich dennoch auf den Weg machen und den gefährlichen Weg über das Mittelmeer und jetzt auch über den Atlantik auf sich nehmen, um nach Europa zu kommen.
Aus Sicht der Gesamtsynode und des Moderamens der Gesamtsynode kann es den europäischen Staaten nicht egal sein, was an ihren Außengrenzen geschieht. Die evangelisch-reformierte Kirche ist deshalb auch in dieser Frage im Netzwerk europäischer Kirchen aktiv, um eine verbesserte und koordinierte Flüchtlingspolitik in Europa zu erreichen. Bis das aber der Fall sein wird, kommen Menschen an die Grenzen Europas, die für eine gewisse Zeit auf Hilfe Dritter angewiesen sind. Wenn staatliche Hilfe ausbleibt, um menschliches Leid zu verringern, ist es seit Jahrhunderten Tradition, dass die christlichen Kirchen im Geist Jesu Christi helfen und unterstützen. Dies erfolgt durch direkte Hilfe, die die Evangelisch-reformierte Kirche in vielen kirchlichen Initiativen unterstützt, oder durch politische Einflussnahme.
Politische Meinungsbildung
Anders als in wirtschaftlichen Unternehmen, die hierarchisch organisiert sind, gilt dies für die Zivilgesellschaft nicht. Politische Meinungsbildung erfolgt nicht ausschließlich durch ein Top-Down-Management, sondern durch die Rückkoppelung gewählter Gremien mit der Zivilgesellschaft. Auch Kirchen und religiöse Gemeinschaften sind Teil dieser Willensbildung. Dabei sollten für die Kirchen die christlichen Grundsätze von Nächsten- und Feindesliebe und die Hilfe für den Nächsten in Not wegweisend sein.
Das diese Grundsätze unter Abwägung des politisch und ökonomisch Machbaren nicht immer in ihrer reinen Form verwirklicht werden können, ist unstreitig. Die Frage ist aber doch: Was ist in der gegenwärtigen Situation die Alternative? Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit, Menschen aus einer Notsituation aufzunehmen und in der Sicherheit Europas bzw. Deutschland zu prüfen, ob sie ein Aufenthaltsrecht haben und ihnen gegebenenfalls bei der Integration zu helfen. Dann besteht noch die Alternative, die Grenzen Europas streng geschlossen zu halten und aufgrund der katastrophalen Lage in vielen Ländern Nordafrikas, das Leid derjenigen zu vergrößern, die sich auf den Weg nach Europa gemacht haben. Ja, die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine Investition. Ja, wir wissen nicht, welche Flüchtlinge hierbleiben dürfen und ja, es ist legitim, über die konsequente Rückführung von Menschen zu sprechen, die kein Aufenthaltsrecht in Deutschland erlangen. Die Alternative zu Seenotrettung und Erstaufnahme von Flüchtlingen in Europa bzw. Deutschland, heißt aber, eine Aufenthaltsentscheidung dadurch zu treffen, dass Europa sich abschottet und billigend in Kauf genommen wird, dass Tausende Ertrinken. Für die Evangelisch-reformierte Kirche ist dies eine Alternative, die wir auch aus christlich-humanitärer Überzeugung nicht wählen können und somit auch nicht gewählt haben.
Die Evangelisch-reformierte Kirche trifft ihre Entscheidungen und Positionen nicht, sondern achtet darauf, dass sie in der Nachfolge Jesu Christi vor seinen Augen und zugleich in der Welt bestehen können.
.
- ↑ Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages: Auswirkungen von Migration auf die deutsche Volkswirtschaft, WD 5 - 3000 - 011/19.