Zuletzt bearbeitet vor 3 Tagen
von Johanna Jung

Kirche und Ökumene

Version vom 27. November 2025, 20:26 Uhr von Johanna Jung (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „'''Die Kirche glauben''' = Einleitende Worte = Was ''ist'' Kirche und was ''soll sie sein''? Wir wollen ja die Möglichkeit haben, sie stets zu reformieren, ohne ihre Grundfesten aus dem Blick zu verlieren. Wir nähern uns den Fragen, wie wir Kirche denken und auch ''glauben'' können, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt, indem wir in einem ersten Schritt den Fokus auf die Beschreibung der Kirche als ''Leib Christi'' durch Paulus setzen und…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Die Kirche glauben

Einleitende Worte

Was ist Kirche und was soll sie sein? Wir wollen ja die Möglichkeit haben, sie stets zu reformieren, ohne ihre Grundfesten aus dem Blick zu verlieren. Wir nähern uns den Fragen, wie wir Kirche denken und auch glauben können, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt, indem wir in einem ersten Schritt den Fokus auf die Beschreibung der Kirche als Leib Christi durch Paulus setzen und uns auf die Bilder einlassen, mit denen Paulus den Leibgedanken nachvollziehbar machen will.

In einem zweiten Schritt gehen wir den Attributen der Kirche gedanklich nach, die wir im Glaubensbekenntnis mitsprechen: Was bedeutet es, dass die Kirche „heilig“, „allgemein“ und „christlich“ ist? Wir versuchen, diese Begriffe zu deuten.

In einem letzten Schritt betrachten wir die Konsequenzen von Kirche-Sein: Es geht damit um Gestaltungsfragen. Hierbei werden wir insbesondere die Überlegungen von Johannes Calvin aufnehmen, der zuweilen auch kritisiert wurde, die Gestaltungsaufgabe in problematischer Weise bedacht zu haben – das Stichwort heißt „Kirchenzucht“.  

Wir beschließen unsere Reflexionen mit dem Gedanken Calvins, der uns, wie bereits Paulus, eröffnet, dass die Kirche – trotz aller Herausforderungen, vor der sie steht – sich darauf verlassen kann, vom Heiligen Geist getragen zu sein, der die einzelnen Kirchenmitglieder mit Gaben ausstattet – zum Wohl der ganzen Kirche.

  

Inhaltsverzeichnis

Einleitende Worte

Die Kirche als Leib Christi: 1. Korinther 12

Kirche und Ökumene

Ich glaube … die heilige Kirche

Ich glaube … die allgemeine Kirche

Ich glaube … die christliche Kirche

Kirche als Gestaltungsaufgabe

Fragen zum Weiterdenken

Literatur


Die Kirche als Leib Christi: 1. Korinther 12

Der Apostel Paulus schreibt einen Brief an die von ihm gegründete Gemeinde in der Hafenstadt Korinth. In der sozial sehr diversen Gemeinde kommt es zu Streitigkeiten über Statusfragen. Es geht um Rangkonflikte. Wer steht höher? Gibt es einen Rangunterschied zwischen Begabungen, die der Geist Gottes schenkt? Diese Diskussion steht in Verbindung mit den sozialen Unterschieden. Im Alltag leben die Gemeindeglieder in sehr verschiedenen Milieus, vom Sklaven bis zum Sklavenbesitzer. Die Stellung im Alltag wirkt in die Gemeinde hinein.


Hier setzt Paulus an und erläutert die Grundlage für die Zugehörigkeit zur Gemeinde Jesu Christi.

Diese Grundlage schafft der Heilige Geist. Durch die Kraft des Heiligen Geistes kommt Gott in das Leben eines Menschen hinein und der Mensch kann Jesus als den Herrn bekennen (vgl.1 Kor 12,3). Der Mensch ist durch das Wirken des Geistes ein neuer Mensch geworden. Die Korinther als Gemeinde sind Teil einer neuen Menschheit. Deshalb muss ihr ethisches Verhalten dieser neuen Identität entsprechen.  Das ist die Grundlage für das Verhalten des so verwandelten Menschen.

Das Verhalten wird durch den Geist Gottes geleitet. Der Geist schenkt jedem Menschen Begabungen, die zum Nutzen der Gemeinschaft dienen. Sie sind unterschiedlich aber sie werden nicht bewertet. Das beschreibt Paulus in 1 Korinther 12,4-7:

„Es gibt zwar verschiedene Gaben,

aber es ist immer derselbe Geist.

Es gibt verschiedene Aufgaben,

aber es ist immer derselbe Herr.

Es gibt verschiedene Kräfte,

aber es ist immer derselbe Gott.

Er bewirkt das alles in allen Menschen.

Das Wirken des Geistes zeigt sich bei jedem

auf eine andere Weise.

Es geht aber immer um den Nutzen für alle.“


Dieser letzte Satz ist entscheidend. Einzelne Gemeindeglieder in Korinth neigten dazu, sich selbst in den Vordergrund zu stellen mit ihren jeweiligen Gaben. Besonders das vermutlich ekstatische Reden in Zungen war hoch angesehen. Dabei wurden gerade durch diese Begabung viele Gemeindeglieder ausgeschlossen, weil sie gar nicht verstehen konnten, was gesprochen wurde. Diese Begabung diente in der ausgeübten Weise nicht dem Nutzen aller. Der Blick auf das Wohl der Gemeinschaft ist für Paulus das entscheidende Kriterium für das Leben der Gemeinde.

Der Begriff, der im griechischen Text für ‚Nutzen‘ steht, sympheron, bedeutet allgemein „Profit, Vorteil“. Er wird durch Hinzufügung näher bestimmt, je nachdem, was der Redner besonders betonen möchte, also z.B. Vorteil für die Stadt.

Der Apostel Paulus führt im weiteren Text aus, was er näher bestimmen möchte, nämlich das Leben der Gemeinschaft der Gemeinde.


Zur Verdeutlichung nimmt der Apostel ein Bild auf, das den Menschen in Korinth geläufig ist. Es ist das Bild vom Körper, das in der stoischen Philosophie, die zum Allgemeinwissen der Zeit gehörte, häufig als Vergleich für das Leben im Staat angeführt wurde und zur Aufrechterhaltung der hierarchischen Ordnung diente.


Paulus vergleicht den Körper mit der Gemeinde (vgl. 12,12-26). Der Körper besteht aus vielen Körperteilen und ist doch ein einziger Leib (vgl. 12,12). Er zählt einzelne Körperteile auf (vgl. Vs. 14-19), von denen keiner für sich allein bestehen kann. Jeder allein ist nutzlos. Nur im Zusammenklang aller Körperteile entsteht ein funktionstüchtiger Körper (vgl. Vs. 20-26). Er benennt die Unterschiedlichkeit und die Einheit, die gleichermaßen den Körper ausmachen. Dabei geht es nicht nur um die Funktionstüchtigkeit des Körpers, sondern auch um die Zugehörigkeit zum Ganzen. Ein Gemeindeglied ist ein Teil des Ganzen, auch wenn seine Gaben in der Gemeinde nicht wahrgenommen werden oder eingebracht werden können. Es geht um das Sein, um das, was der Mensch durch Christus ist. Die Beschreibung der zusammengehörenden Körperteile erklärt auch, dass jedes und damit auch jedes Gemeindeglied notwendig ist.

Die Verse 22-24 betonen, dass Gott den allgemein weniger beachteten Körperteilen besondere Aufmerksamkeit schenkt.  Das bedeutet im übertragenen Sinn, dass sich in der Gemeinde die Sichtweise aufeinander verändert. Der Apostel gibt dem allgemein gebräuchlichen Bild eine neue Ausrichtung. In ihm erhalten die in der Welt gering Geschätzten besonderen Wert. Die Gemeinde, der Leib Christi, lebt in der Welt, in der die Unterscheidung zwischen Juden und Griechen , also sozialen und ethnischen Unterschieden, gelten, und gleichzeitig in der neuen Welt des Leibes Christi, in dem diese Unterscheidungen aufgehoben sind. Diese Unterscheidung ist nur für die zu erkennen, die vom Geist Gottes geleitet werden (vgl. 1 Kor 2,6-16). In diesem Leib Christi achten die Gemeindeglieder aufeinander, machen keine Unterschiede und teilen Freude und Leid (vgl. 1 Kor 12, 26).

„Ihr seid nun der Leib Christi“, fährt Paulus fort.

Er betont mit dieser Wendung noch einmal die Zugehörigkeit der Korinther zu Christus. Es geht nicht nur um guten Zusammenhalt in einer Gemeinschaft. Es geht um Zusammenhalt in Christus. Das Verhalten der Korinther betrifft nicht nur die Gemeinschaft sondern ebenso Christus (vgl. auch 1 Kor 8,12 – das sündige Verhalten gegenüber schwächeren Glaubensgeschwistern wird als Sünde an Christus bezeichnet).


Mit dem Blick auf die Beschreibung der Gemeinde ist zusammenfassend ein Blick auf den Gebrauch der Pronomina interessant.

In V. 13 wechselt das Pronomen vom ‚ihr‘ zum ‚wir‘. Paulus wechselt die Blickrichtung.  Es ist nicht nur die Gemeinde in Korinth gemeint sondern die Gesamtheit der zu Christus Gehörenden. Durch die Taufe sind die Getauften und Christus nicht nur wie ein Leib sondern sie sind ein Leib, ja, sie sind der Leib Christi durch den einen Geist. In diesem Leib gibt es keine Unterschiede mehr. Soziale und ethnische Unterschiede zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien sind aufgehoben. Im Leib Christi, wohlgemerkt, und somit auch im Leben der Gemeinde. Diese Aussage bezieht sich nicht auf das Leben in der Gesellschaft. Paulus ruft nicht zum Umsturz der staatlichen Verhältnisse auf.

In V. 27 wechselt das Pronomen wieder zum ‚ihr‘: „Ihr seid nun der Leib von Christus.“

Je nachdem, welchen Aspekt er betonen möchte, wechselt Paulus von dem universalen Einheitswirken des Geistes zur Einheit der örtlichen Gemeinde in Korinth.

Beide sind aufeinander bezogen.

Kirche und Ökumene

Ein Leib – viele Glieder, so beschreibt Paulus sein Verständnis von Kirche. Und im Apostolischen Glaubensbekenntnis ist Kirche auch nur im Singular benannt: „Wir glauben … die heilige allgemeine christliche Kirche“. Das Wort „allgemein“, das in reformierten Kirchen im Glaubensbekenntnis gesprochen wird, wird in lutherischen Kirchen weggelassen. Und das Wort „christlich“ fehlt in der römisch-katholischen Kirche, dafür taucht dort das Wort „katholisch“ auf. Was bedeutet das alles?

Im Folgenden versuchen wir einmal, einzelne Schritte dieses einen Satzes durchzugehen – und suchen dabei das Gespräch zwischen diesem einen Satz des Glaubensbekenntnisses und der Frage und Antwort 54 des Heidelberger Katechismus, der diesen einen Satz des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zu verstehen versucht.

Ich glaube … die heilige Kirche

Es ist sehr naheliegend, das Thema „Kirche“ zu behandeln, indem wir mit den Erfahrungen anfangen, die wir in unserer eigenen Gemeinde gemacht haben – oder auch mit verschiedenen Kirchen, die es gibt. Oder mit dem Kirchengebäude – oder mit den Gottesdiensten. So kann man beginnen. Aber so tut es weder das Apostolikum noch der Heidelberger Katechismus. Und warum nicht? Weil man von außen nicht sehen kann, dass zum Beispiel unsere Gemeinde der Leib Jesu Christi ist. Denn was können wir da sehen? Gebäude – aber die gibt es andernorts auch. Menschen, die vielleicht fromme Dinge tun – aber das gibt es andernorts auch. Von außen können wir nur wahrnehmen, dass Menschen ganz bestimmte Dinge tun. Und vielleicht haben wir zuweilen sogar Mühe damit, wenn wir von uns sagen sollten, dass wir Teil des Leibes Jesu Christi sind. Deswegen ist der Satz, dass wir die Kirche glauben, so notwendig. Denn nicht selten muss man sagen (und vielleicht sogar immer), dass die Kirche (auch die reformierte Kirche) Leib Jesu Christi ist, obwohl wir dabei sind. Wir glauben nicht „an“ die Kirche, wohl aber, dass diese Ansammlung von Menschen mehr ist als nur eine Ansammlung von Menschen, sondern der Leib Jesu Christi. Dass Jesus Christus hier wirkt, obwohl wir eher anderes sehen. Wir glauben die Kirche – oft gegen den Augenschein. Im Neuen Testament steht für das Wort „Kirche“ „ekklesia“ – und das bedeutet die Gemeinschaft der Herausgerufenen.

Der Heidelberger Katechismus spricht hier von Erwählung. Dass es die Kirche gibt, ist nicht einfach unsere eigene Entscheidung oder verdankt sich allein unserem Wirken: Entscheidend ist, dass „der Sohn Gottes … sich eine auserwählte Gemeinde … versammelt, schützt und erhält.“ Das können wir nicht einfach sehen. Das ist Gegenstand des Glaubens – aber darum nicht weniger wahr als alles andere im Glauben.

Das Wort „heilig“, das hier im Glaubensbekenntnis benutzt wird, bedeutet nämlich genau besehen: „auserwählt“. „Heilig“ bedeutet im Hebräischen „kabod“ und meint, dass Gott Dinge oder Menschen auserwählt und gebraucht – und sie damit besonders macht. So ist das auch mit der Kirche. Sie ist besonders – und alle in ihr sind das auch -, weil Gott sie gebraucht. Weil die Kirche ja nicht einfach für sich selber da ist. Und natürlich gibt es in jeder Gemeinde besondere Menschen – aber hier meint „besonders“ eben: ausgesondert, ausgesucht. Und das heißt, dass jeder Christ und jede Christin besonders sind, weil sie von Gott auserwählt sind. Nicht zuletzt darum werden die Christinnen und Christen im Neuen Testament „Heilige“ genannt.

Der Gedanke der Erwählung beginnt aber nicht erst mit dem Neuen Testament: Das Volk Israel wird durchgehend in der ganzen Bibel als das auserwählte Volk Gottes verstanden – es ist also „heilig“. Ich glaube die heilige Kirche heißt deshalb auch, dass wir die Kirche nicht ohne das Volk Israel verstehen können; und der Heidelberger Katechismus formuliert darum auch, dass Gott sich „von Anbeginn der Welt bis ans Ende“ seine Gemeinde erwählt.

Ich glaube … die allgemeine Kirche

Damit stehen wir vor einem Problem, das mit der eben genannten Aussage zusammenhängt. Wir bekennen, dass wir „eine Kirche“ glauben, aber sehen vor uns viele Konfessionen: Die römisch-katholische Kirche, die lutherischen Kirchen, die orthodoxen Kirchen, die freikirchlichen Gemeinden und vieles andere mehr. Hier sehen wir das Wort „Kirche“ oft im Plural. Wir glauben die eine Kirche – und sehen viele.

Hier ist das Wort „allgemein“ in den Blick zu nehmen. Dieses Wort lautet im Griechischen „katholikos“ – und Sie merken schon: das ist das Wort „katholisch“. „Katholisch“ ist das gleiche wie „allgemein“. Und das hat die lutherische Kirche dazu geführt, dieses Wort aus dem Apostolischen Glaubensbekenntnis zu streichen. Nicht dass die lutherische Kirche meint, dass es mehrere Leiber Jesu Christi gibt, wohl aber, dass sie – wie es heute auch nicht wenige Menschen denken – „katholisch“ heißt: „römisch-katholisch“.  Bis heute formuliert die römisch-katholische Kirche so, dass sie in besonderer Weise weitgehend identisch sei mit der Kirche Jesu Christi – und verweigert darum bis heute auch den evangelischen Kirchen den Status „Kirche“. Aber das ist eher das Problem der römisch-katholischen Kirche als unseres. Fakt ist, dass wir auch an dieser Stelle sagen und bekennen, dass es nur einen Leib Jesu Christi gibt, nur eine Kirche auf Erden – aber dass wir die vielen Konfessionen und Kirchen sehen. Und spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist auch die römisch-katholische Kirche eine Konfession neben anderen.

Aber ist die Vielfalt der Konfessionen ein Problem, wenn wir von der einen Kirche reden?

Darauf ist nicht mit einem einzigen Satz zu antworten.

Zunächst: ja, es ist ein Problem. Denn es gab in den fast 2000 Jahren seit Bestehen der Kirche viel Streit und Ärger zwischen den Kirchen. Da wurden eigene nicht selten nationale Eigenarten so stilisiert, als seien diese mit Gott selber identisch. Im Ersten Weltkrieg befürworteten die meisten deutschen Kirchen den Krieg auch gegen andere Christen und Christinnen, weil sie das deutsche Wesen für prinzipiell überlegen betrachteten – und das ist nur ein kleines Beispiel aus einer langen Reihe, die vermutlich jeder und jede unter Ihnen fortsetzen könnte. Der Streit der Kirchen ist ein Problem. Und es hat lange, sehr lange gedauert, bis sich der Gedanke der „Ökumene“ in den Köpfen und Herzen der Kirchen eingenistet hat. Ökumene heißt, dass wir die Kirche Jesu Christi auch in den anderen Konfessionen glauben – vielleicht auch gerade dann, wenn sie ganz anders glauben als wir. Und auch manches Andere, was für uns sehr befremdlich ist. Es ist darum gut, wenn unsere Gemeinden immer wieder ökumenische Begegnungen suchen – mit anderen Gemeinden und Kirchen in der Nähe, aber auch mit Gemeinden und Kirchen in der Ferne: Denn wir sind eine Kirche, auch gemeinsam mit den Geschwistern etwa in Afrika.

Ein Zweites: Die Vielfalt der Konfessionen ist als Reichtum zu verstehen. In 1 Petrus 4,10 wird die göttliche Gnade als „bunt“ beschrieben (Luther übersetzt hier „mannigfaltig). Die Vielfalt der Konfessionen drückt hier eben aus, dass wir in unserer Form, Kirche zu leben, immer nur Aspekte der Gnade Gottes ausdrücken können. Da steht die Nüchternheit deutscher reformierter Gottesdienste neben der ausgelassenen Freudigkeit in afrikanischen Gottesdiensten, da steht unsere liturgische Schlichtheit neben einer aus unserer Sicht liturgisch überbordenden orthodoxen Gottesdienstgestalt. Und wir werden nicht alle Formen der gelebten kirchlichen Vielfalt übernehmen können, weil dann ein langweiliger grauer Einheitsbrei draus wird. Die Buntheit lebt von der Erkennbarkeit der Farben – und so werden wir immer Einseitigkeiten leben und betonen. In den letzten Jahren ist bei ökumenischen Begegnungen immer stärker auch die jeweils unterschiedlich gelebte Frömmigkeit als solche wertgeschätzt worden – und Ökumene wird nicht nur verstanden als Einheit, sondern als „Gemeinschaft“. Miteinander ganz anders eine Kirche zu sein ist darum ein gutes Zeichen von gelebter Pluralität, an gelebter Gemeinschaft der Kirchen und Gemeinden in der einen Kirche Jesu Christi.

Aber jetzt kommt noch ein dritter Gedanke: Denn das eben Gesagte könnte auch verstanden werden als kritikloses Bleiben beim Status quo. Dann werden die Traditionen einfach nur als Reichtum verstanden – und gar nicht mehr als Problem. In der Reformationszeit wurde beispielsweise den Evangelischen vorgeworfen, dass sie die eine Kirche Jesu Christi spalten wollten. Aber – so etwa Johannes Calvin in seiner wunderbaren Antwort an Kardinal Sadolet – es ging den Evangelischen damals nicht um Spaltung, sondern um die Erneuerung der Kirche, um die Reform. Die Reformation hat damals gesehen, dass es nicht gut um die Kirche stand und hat deshalb grundlegende Reformen angestrebt und entwickelt. Das bedeutet, dass die „Einigkeit des wahren Glaubens“ nicht einfach als Besitz zu verstehen ist, sondern immer wieder bedeutet, sich darum zu mühen – und auch zu streiten. Ein Gespräch mit anderen Konfessionen bedeutet nicht (oder darf es nicht bedeuten), fraglos alles stehen zu lassen, wie es geworden ist, sondern wir dürfen einander fragen und manchmal auch kritisch benennen, dass wir etwa Mühe mit manchem in anderen Kirchen haben – und umgekehrt. Hochmut ist dabei falsch, weil wir in der Gefahr stehen, den Splitter in der anderen Konfession deutlicher zu sehen als den Balken in der reformierten Kirche.

Diese ständige notwendige Erneuerung der Kirche hat immerhin auch dazu geführt, dass viele deutsche Kirchen und auch unsere reformierte Kirche das Volk Israel ökumenisch verstehen: Juden sind unsere Geschwister und das Judentum ist keine andere Religion. Aber das ist natürlich ein asymmetrischer Gedanke: Das Judentum versteht das Christentum anders als die Kirche Israel sieht, für das Judentum ist die Kirche nicht Teil ihres Selbstverständnisses. Umgekehrt aber wohl.

Ich glaube … die christliche Kirche

Der Begriff „christlich“ ist von den lutherischen Kirchen hinzugenommen worden, als das Wort „katholisch“ wegfiel. Und es ist eigentlich selbstverständlich, weil das Wort „Kirche“ bedeutet: „Haus des Herrn“ – und mit „Herr“ werden in der Bibel „Gott“ und „Jesus Christus“ bezeichnet. „Christliche Kirche“ verweist dabei auf den Gottesdienst, an dem die Christen und Christinnen zusammenkommen und Gottesdienst feiern, Gott loben und erwarten, Lebensimpulse aus dem geschriebenen Wort Gottes zu hören zu bekommen. „Dass ich ein lebendiges Glied dieser Gemeinde bin und ewig bleiben werde“, ist die Hoffnung, die der Katechismus formuliert – und die reicht über die irdische Kirche und vor allem über unsere Art und Weise, Kirche zu leben, hinaus. Dass Gott der Kirche und allen Menschen Leben, neues Leben verheißen hat, ist ja der Grund, warum es überhaupt die Kirche gibt. Das ist unser „einziger Trost im Leben und im Sterben“ (HK Frage 1), das ist aber auch zugleich die Aufgabe der Kirche.

Kirche als Gestaltungsaufgabe

Zu unserer Aufgabe gehört es daher, die Kirche immer wieder zu erneuern. Und nicht nur sie: Die Welt sollen wir doch mitgestalten! Vom Gottesdienst in der Kirche geht es also zum Gottesdienst in der Welt!

Damit sind wir bei der Frage nach den Konsequenzen des Kirchenbegriffs angelangt und auch hierbei ist Calvin ein guter Ausgangspunkt. Blieb Luther bei der Aussage „ein guter Baum trägt gute Früchte“ stehen, um zu verbildlichen, wie der gerechtfertigte Mensch sozusagen „automatisch“ gut handeln wird, stellte Calvin konkrete ethische Forderungen. Das Leben im christlichen Glauben sollte Calvin zufolge in einer Weise gestaltet werden, dass eine Kirche entsteht, in der das Engagement von jedem Gemeindeglied sichtbar wird. Jede und jeder Einzelne solle sich als Teil einer christlichen Gemeinde so verhalten, dass es der gesamten Kirche dient. Dazu brauchte es Ordnungen. Für Calvin muss es immer Ordnungen geben – sowohl für das Leben der Einzelnen, als auch für das in der Gesellschaft, in einem Staat und auch für das Leben in der Kirche, die ein Leib werden will. Das impliziert auch, dass man prüft, ob und wie die eigenen Geist-geschenkten Gaben in der Gemeinde eingesetzt werden könnten.

Dass es überall Ordnungen geben muss, hängt dabei mit Calvins Vorstellung von Gott zusammen: Gott, der Schöpfer, der aus Chaos eine Welt erschuf, der hört auch nicht nach der Schaffung der Welt auf: Der ordnet vielmehr alles. Alles ist an seinem von Gott zugewiesenen Platz und die gesamte Weltgeschichte ist durchstrukturiert.


Der Gedanke, dass Ordnung ein Grundimpuls von Gottes Handeln darstellt, dass er Ordnung unbedingt will, das ist nicht nur ein „erbaulicher“ Gedanke in einer zuweilen chaotisch erscheinenden Welt: Hiermit will Calvin auch die Gestaltungsmöglichkeiten und die Eigenverantwortung des Menschen betonen. Denn Calvin traut dem Menschen viel zu: Den Ordnungswillen Gottes kann der Mensch durchaus erkennen und das hilft ihm wiederum auch, zu handeln. Befreit kann er jedoch erst handeln, wenn er glaubt, dass das Gelingen nicht von ihm abhängig ist. Er kann nicht die Welt erlösen und auch nicht sich selbst – das tut Gott allein.

Dass Calvin sich bei so einer Hochschätzung des Ordnungsgedanken auch an die Erarbeitung von einer Kirchenordnung macht, scheint nur folgerichtig. Und seine Kirchenordnung macht Schule: Obwohl die Ordnung, die er für die Gemeinde in Genf erarbeitet hat, nicht in allen anderen reformierten Gemeinden genauso umgesetzt wird (Unterschiede gab es bei der Anzahl und den Funktionen von kirchlichen Ämtern usw.), ist doch in jeder reformierten Kirchenordnung (bis heute!) Calvins Handschrift erkennbar. Es ist erkennbar, wie Calvin eine Gemeinde als Leib mit vielen Gliedern und Christus als Haupt denken will.


Der Gemeindeaufbau hat nach Calvin grundsätzlich zwei Zentren: Den Gottesdienst und die Kirchenordnung. „Ersterer trägt zur Erbauung bei, letztere zum Aufbau. Beides kann jedoch nicht voneinander getrennt werden.“[1] Beide ordnen, innen und außen. Beide werden, bevor über die große, weltweite Kirche überhaupt gedacht werden kann, in der Gemeinde erlebt und da auch realisiert.

Diese Kirchenordnung impliziert aber auch einen Aspekt, den viele Reformierte stark machten und der z.T. mit problematischen Konsequenzen einherging: Die Gemeindeglieder in Genf, aber auch in anderen reformierten Gemeinden wurden dazu angehalten, ganz genau ihren eigenen Lebenswandel, aber auch den ihrer Brüder und Schwestern im Blick zu haben: Wir sprechen von der sogenannten reformierten „Kirchenzucht“, die gerade in Calvins Wirkstätte Genf oder in einigen niederländischen Gemeinden skurrile Auswüchse angenommen hat: Rigide wurde dort ins Private eingegriffen. Der Blick „in die Häuser“, „durch die Fenster“ der Glaubensgeschwister war nicht nur bildlich gemeint: Die Gemeindeglieder sollten durchaus in die Häuser spähen, um „unsittliches Verhalten“ – das konnte den Ehebruch oder in anderen Gegenden das Würfel- oder Kartenspiel und vieles mehr meinen – auszumachen und Verstöße zu ahnden. Dies geschah zunächst im Gespräch mit nur wenigen Glaubensgeschwistern, bei mangelnder Reue wird es dann vor der Gemeinde öffentlich gemacht. Die Zucht, Calvin beschreibt sie im Horizont des Leibbildes als die Nerven, die den Leib durchziehen, ist aufgrund ihrer Gestaltung an manchen Orten in der Tat ein dunkles Kapitel reformierten Gemeindeaufbaus. Doch unbenommen von moralistischen Auswüchsen – das Ansinnen ist nicht leichtfertig wegzuwischen: Dass sich der Leib Christi auf eine Weise konstituiert, dass Glauben und Leben im Glauben nicht auseinanderfallen und dass ein christliches Verhalten ethischen Grundsätzen unterliegt und auch eingefordert werden muss – das ist doch nicht weit entfernt von Paulus Ermahnungen im Neuen Testament. Den ganzen Lebenswandel hingegen als „reine Privatangelegenheit“ abzutun, wird womöglich auch nicht immer dem gerecht, der ermahnt wird: Da sind manchmal Fragen, die den Zusammenhalt der ganzen Gemeinde betreffen können, manchmal sind es aber seelsorgliche Fragen. Um einmal ein Beispiel zu ersinnen: Jemanden das Kartenspiel zu verbieten, das ist ein moralistischer Auswuchs von Kirchenzucht, der uns heute zu Recht komisch vorkommt. Doch mit demjenigen, der spielsüchtig ist, nicht darüber zu sprechen, lässt doch die Frage offen, ob demjenigen dadurch der geschwisterliche Beistand verweigert wird. Die Gemeinde, der eine Leib, sorgt füreinander. Das hält den Leib zusammen und Einheit ist das Grundanliegen.

Um Calvins „Ethik“ also zusammenzufassen: Gott steht für Ordnung, hat Menschen erschaffen, die das auch erkennen können und zuweilen auch von anderen brüderlich und schwesterlich  ermahnt werden dürfen. Sie sollen die Augen und Ohren öffnen und dafür empfänglich sein.


Wie kann das überhaupt alles funktionieren? Wie kann Gemeinde werden und bleiben? – In reformierter Theologie gibt es dafür eigentlich nur eine Antwort: Das liegt am Heiligen Geist. Der Geist Gottes ist letztlich derjenige, der den Gemeindeaufbau verbürgt: Er stattet die Menschen schließlich mit den Gaben aus. Er nutzt Wort und Sakrament – ja die ganze Institution „Kirche“ –, um Gottes Wort in den Menschen wahr zu machen. Und wenn ich meine Gabe mit Freuden einsetzen darf oder erfahre, dass ein anderer seine Gabe für mich einsetzt – so liegt es am Geist. Wenn ich das in diesem Horizont der christlichen Gemeinschaft erlebe und damit glaube, dass da etwas Wahres an dieser ganzen guten Botschaft dran ist, dann ist der Geist am Werk. Denn „Glaube“ ist das „vornehmstes Werk“ des Heiligen Geistes, wie Calvin gerne sagt.

Fragen zum Weiterdenken:

•       Welche Konsequenzen ergeben sich für die Leitung der Kirche aus 1. Korinther 12?


•       Wie kann ich von der Kirche reden und sehe viele Kirchen?


•       Was macht die Kirche besonders? Was unterscheidet sie von einem Verein?


•       Was muss ich tun, um zur Gemeinde zu gehören?


•       Wir hören von vielen Funktionen und Gaben in der Gemeinde.

             Aber: Unsere Gemeinden sind oft sehr zentriert auf die Pastor*innen.

             Passt das zusammen?


•       Ich bin ehrenamtlich tätig. Ist das minderwertig?


•       Ist es auch heute unsere Aufgabe, Gemeindeglieder zu (er-)mahnen?

              Wie verhalten sich dabei Toleranz, Gleichgültigkeit und Überheblichkeit?


Literatur

Frank Jehle, Die Andere Kirchenstruktur: Teilung der Ämter aus: Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 202 Matthias Krieg/Gabrielle Zangger-Derron (Hg)


[1] J. Becker, Reformierter „Gemeindeaufbau“ in Westeuropa. Zur Verbreitung Calvinscher Ekklesiologie, in: Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven, hg. von I. Dingel u. H. J. Selderhus, Göttingen 2011 (263-280), 266.